Wie forscht man, wenn zu Hause Krieg ist?

Wie forscht man, wenn zu Hause Krieg ist?

 

Оригінал на “Der Spiegel” від 10.01.2024
Автор: Christoph Seidler

 

Auf einem Eiland in der Antarktis harren 14 Ukrainer in einer Forschungsstation aus. Während daheim Raketen einschlagen, sammeln sie Daten für die Wissenschaft – und kehren aus dem Eis teils direkt zurück in den Krieg.

Wernadski-Forschungsstation (2019): Ursprünglich britische Station wurde 1996 von der Ukraine übernommen Foto: Ashley Cooper / Pond5 Images / IMAGO

 

Die Videoqualität ist exzellent. In schwarzer Funktionskleidung, frisch rasiert und mit ernstem Blick erscheint Bogdan Gavrylyuk nach kurzem Klingeln auf dem Handybildschirm. Dass der Geophysiker fast 15.000 Kilometer entfernt sitzt, ist keine Sekunde zu spüren. Elon Musk sei Dank. Aber dazu später mehr.

Eigentlich arbeitet Gavrylyuk am Institut für Radioastronomie im nordost-ukrainischen Charkiw. Aktuell leitet er die Wernadski-Forschungsstation, den Außenposten seines Landes in der Antarktis. Deren Gebäude stehen an der Nordwestspitze der nicht einmal 0,4 Quadratkilometer großen Galíndez-Insel, einem kleinen Eiland unmittelbar westlich vor der Antarktischen Halbinsel, auf 65 Grad südlicher Breite.

»In dieser Saison sind wir 14 Mann«, sagt Gavrylyuk, »drei Geophysiker, drei Biologen, drei Meteorologen und fünf Techniker«. Ihre Aufgabe: Daten für die internationale Forschungsgemeinde zu sammeln, teils jahrzehntelange Messreihen fortzusetzen – während in ihrer Heimat der Krieg tobt. »Es ist nicht einfach. Wir denken permanent an Familien und Freunde zu Hause«, sagt der Stationsleiter, der 2023 zum zehnten Mal in der Antarktis überwintert hat.

 

Station für ein Pfund gekauft

Während ihre Landsleute zu Hause für die Ukraine kämpfen, haben sich Gavrylyuk und sein Team in den Dienst der Wissenschaft gestellt – vorerst. Die Daten der Wernadski-Station sind wichtig, weit über die Grenzen der Ukraine hinaus. Hier werden mit präzisen Messgeräten noch die feinsten Veränderungen des Erdmagnetfeldes registriert. »Die geomagnetische Zeitreihe der Station ist eine der längsten auf dem antarktischen Kontinent«, sagt Jürgen Matzka vom Deutschen GeoForschungsZentrum (GFZ) in Potsdam. Gerade aus den Polargebieten seien solche Daten wertvoll.

Südozean unweit der Wernadski-Forschungsstation: Hotspot der Klimakrise Foto: VW Pics / Universal Images Group / Getty Images

Relevant sind auch die meteorologischen Untersuchungen des ukrainischen Teams in der Antarktis. Nirgendwo erwärmt sich der Südkontinent so massiv wie an der Antarktischen Halbinsel. Gavrylyuk und seine Kollegen dokumentieren diesen Trend. Die Datenreihe geht bis in die Vierzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurück, als die Station noch von Großbritannien betrieben wurde. Sie liegt genau an einem der Brennpunkte der Klimakrise.

Der Forschungsposten in der Antarktis hat eine bewegte Geschichte: Eingerichtet wurde er 1947 auf einer anderen, nahen Antarktisinsel. Den Auftrag gab seine Majestät Georg VI., der britische König. Sieben Jahre später, seine Tochter Elizabeth II. hatte inzwischen den Thron übernommen, wurde die Station dann an ihren aktuellen Platz auf der Galíndez-Insel verlegt. Das Vereinigte Königreich beanspruchte diese Region der Antarktis damals exklusiv für sich.

Mit dem Antarktisvertrag von 1959 ruhen diese Ansprüche. Die Antarktis ist seitdem ein Kontinent der Wissenschaft. Im Jahr 1996 übernahmen die Ukrainer den Komplex offiziell von den Briten, die ihn sonst wegen der Erweiterung einer anderen Station aufgegeben hätten.

Die russische Regierung hatte zuvor einen Antrag der Ukrainer abgelehnt, eine der zuvor von der Sowjetunion genutzten Antarktis-Basen an sie abzugeben. Also kauften sie die Station der Briten – für ein symbolisches Pfund. Für London kamen guter Wille und Eigennutz zusammen – immerhin musste der British Antarctic Survey den Komplex so nicht kostspielig zurückbauen.

 

Hier wurde das Ozonloch mit entdeckt

Die Messdaten der Briten und Ukrainer belegen heute, dass die jährliche Durchschnittstemperatur in der Region innerhalb von rund 70 Jahren um gut drei Grad Celsius gestiegen ist, wobei der statistische Fehler dieses Wertes bei etwa einem Grad liegt. Es könnten theoretisch also auch zwei Grad sein – oder vier.

Dazu kommen kurzfristige Extremereignisse: So stieg am 7. Februar 2022 die Temperatur auf 12,7 Grad , als ein sogenannter atmosphärischer Fluss feuchte und warme Luft aus den Subtropen und den gemäßigten Breiten bis in die Antarktis brachte. Übers Jahr gesehen liegt das Tagesmittel an der Station eigentlich bei minus 3,3 Grad. Am Tag des Gesprächs mit dem SPIEGEL zeigt das Thermometer bei Gavrylyuk sommerliche 3,3 Grad Plus – damit ist zu diesem Zeitpunkt die Antarktis fast 15 Grad wärmer als Berlin. Das ist freilich nur eine Kuriosität.

Pinguin an der Wernadski-Forschungsstation: Drei der neun Wissenschaftler befassen sich mit biologischen Beobachtungen Foto: Ozge Elif Kizil / Anadolu Agency / Getty Images

 

Wichtiger sind andere Daten. So wurde Mitte der Achtziger mit Messungen der heutigen Wernadski-Station, in Kombination mit denen eines anderen britischen Stützpunkts, das Ozonloch über der Antarktis nachgewiesen. Bis heute wird es vermessen. Bogdan Gavrylyuk läuft mit seinem Handy aus dem kleinen Büro, den Hauptgang entlang, wo er eine Leiter in die erste Etage erklimmt. Dort arbeitet sein Kollege Oleksandr gerade am Dobson-Spektrophotometer, einem Messgerät für die Dicke der Ozonschicht, von dem es weltweit nicht einmal 100 funktionierende Exemplare gibt.

»Aktuell liegt der Wert bei 280 Dobson-Einheiten«, liest Gavrylyuk von einem Computerbildschirm ab, der einen blauen Kreis auf grünem Grund zeigt. »Damit ist die Ozonschicht hier immer noch deutlich dünner als etwa in Deutschland oder der Ukraine. Aber für hiesige Verhältnisse ist der Wert ganz okay.«

Dass die Station im Eis an Bedeutung gewinnt, liegt auch am »Starlink«-Satellitensystem von Elon Musk, über das die Internetverbindung der Station läuft. Große Datenmengen können die Fachleute heute problemlos rund um die Welt schicken. Das ist noch nicht lange so. Noch vor drei Jahren standen der Wernadski-Station lediglich 30 Gigabyte Datenvolumen pro Monat zur Verfügung. Noch einmal drei Jahre zuvor gab es überhaupt nur einmal pro Woche die Möglichkeit, Nachrichten zu übertragen, und zwar ausschließlich Text.

 

Münze mit zwei Seiten

Heute verbindet das Netz von Musk das Forschungsteam auch mit dem Kriegsgeschehen in der Heimat. Die Abhängigkeit der Ukraine von den Satelliten ist dort allerdings Fluch und Segen zugleich. Zum SpaceX-Chef hätten die Ukrainer ein gemischtes Verhältnis, sagt Stationsleiter Gavrylyuk: »Das ist wie mit den zwei Seiten einer Münze.« Einerseits sei »Starlink« für das Militär sehr nützlich, wie er in einem Einsatz an der Front persönlich erfahren habe. Andererseits sei Musks Entschluss, den Ukrainern den Zugang zum Netz im Bereich der Krim zu untersagen (mehr dazu hier ), »ein großes Problem, ein riesiger Fehler« gewesen.

Ende März, Anfang April soll per Schiff eine neue Crew zur Forschungsstation kommen. Doch vieles ist ungewiss. Geld für die Forschung auf der Station sollte eigentlich bis ins kommende Jahr da sein. So sagt es die ukrainische Regierung. Aktuell ist allerdings unklar, wie viele neue Überwinterer die Station erreichen werden. »Einige der eigentlich vorgesehenen Kandidaten sind eingezogen worden«, sagt Gavrylyuk.

Auch er wird nach seiner Rückkehr in ein paar Monaten in den Krieg in der Ukraine ziehen. Schon einmal habe er an der Grenze zu Russland eine Einheit von Soldaten geführt, berichtet er. Gebäude und Anlagen seines Instituts in Charkiw liegen in Trümmern, so wie auch die Zentrale des Antarktis-Programms in Kiew durch russische Raketen teilweise zerstört wurde. »Für mich geht es zurück zum Militär.«